Montag, 20. Juni 2011
Gefangen in der velluvialen Matrix
Oder: Auch andernorts schützt Prominenz vor Plagiarismus nicht.

Letzte Woche berichteten sämtliche kanadische Medien über einen wunderlichen Fall von "weichem Plagiarismus" an der renommierten Medical School der University of Alberta in Edmonton. In seiner Rede anlässlich der in Nordamerika am Ende des Studiums üblichen convocation, der Abschlußfeier für Graduierte, wies der Dekan der Fakultät ganz erhaben auf die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens in der Wissensgesellschaft hin. Dabei verwendete er das fiktive Beispiel der velluvial matrix als einen möglichen Fachbegriff, mit dem man sich als Mediziner zukünftig auseinandersetzen müsse, wenn er eines Tages Einzug ins fachwissenschaftliche Vokabular fände. Anders ausgedrückt: Die angehenden Mediziner sollten zeitlebens der Möglichkeit unerwarteten wissenschaftlichen Fortschritts gewahr bleiben.

So weit, so gut. Das Problem an der bis zu dieser Stelle wohlwollend aufgenommenen Rede war, dass sie in weiten Teilen von einem brillanten Vortrag eines amerikanischen Mediziners abgekupfert war. Atul Gawande hatte die velluvial matrix schon ein Jahr zuvor in Stanford und dann schriftlich im New Yorker in die Diskussion eingeführt und wenigstens die Hälfte der Rede des Dekans soll nahezu wortwörtlich der Vorlage gefolgt sein, ohne darauf zu verweisen.

Einige Smartphone-bewehrte und den New Yorker lesenden Studierende stolperten schon während der Rede - die Kerle hatten also ihre Smartphones dabei... so viel zur Erhabenheit der Veranstaltung - über den kuriosen Begriff, blätterten sogleich nach und enthüllten unmittelbar nach den Feierlichkeiten das Plagiat. Was folgte, ist rasch erzählt: Die Studierenden beschwerten sich schriftlich, die Kollegen rückten in zum Teil drastischen Worten vom Dekan ab und keine Woche später war dieser, nach etlichen demutsvollen Entschuldigungen, abgetreten.

Dazu muss man wissen, dass 1) die Position eines Dekans in Nordamerika etwas prestigeträchtiger und auch sehr viel besser dotiert ist als hierzulande, wo die Fakultäten die Position im Rotationsverfahren besetzen und jeder eigentlich nur versucht, sich so lange wie möglich vor dem lästigen Amt zu drücken, 2) Plagiarismus an nordamerikanischen Universitäten einerseits ein tatsächlich grosses Problem darstellt, andererseits bei Aufdeckung drakonisch bestraft wird. Ich selbst hatte einmal die Freude einer Kommission anzugehören, die einen offensichtlichen Fall von Plagiarismus untersuchte. Der Student kam zwar mit einem blauen Auge davon (Aberkennung des Kurses, was ja bekanntermassen auch ans Geld geht), doch war er für den Rest seines Studiums, wenn er es denn beendet hat, gebrandmarkt und aktenkundig. 3) Plagiarismus je härter geahndet wird desto erfahrener die Person ist, der ein Plagiat unterstellt wird. Dies bedeutet, dass ein Erstsemester zwar gründlich den Kopf gewaschen bekommt, aber im Normalfall die Möglichkeit zur Nachbesserung erhält, während die Veteranen, insbesondere natürlich professorale Wissenschaftler, mit sofortiger sozialer Ächtung und beruflicher Degradierung zu rechnen haben. Dies mit schönen Grüßen an unsere promovierten Parlamentarier.

Ich bewundere die Konsequenz, Schnelligkeit und Härte des Urteils gegen den Dekan, gerade weil es sich um einen Dekan handelte. Doch fürchte ich auch die Konsequenz, Schnelligkeit und Härte des Urteils gegen den Dekan, denn es war medial bereits gesprochen bevor die Beweise auf dem Tisch lagen.

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