Montag, 20. Juni 2011
Virtuelle Nachbarschaftsbeobachtung
Wer K sagt muss auch H sagen. Mit Hockey kann man in Kanada nahezu alles erklären. Und damit sei es auch jedem Interessierten ein erstes und letztes Mal gesagt: Es heisst hockey, nicht Eishockey, da dem Mainstream-Kanadier der Gedanke, man könne diesen Sport auf einem anderen Untergrund als Eis spielen schlichtweg undenkbar ist. Auch ich versuche Hockey als integralen Bestandteil kanadischer Identität zu beschreiben, doch darf ich das hier nicht weiter ausführen, sonst wird der Verleger sauer.

Deshalb zu etwas Anderem: Wenn der Winter langsam in den Sommer umschlägt, das heisst um Ostern herum der Schnee zu schmelzen beginnt und die Natur zu explodieren scheint, dann ist im Hockey Playoff-Zeit, die Wochen der Entscheidungsspiele um den Stanley Cup. Da der Frühling in weiten Teilen des Landes nicht lange währt, sondern den Sommer rasch gewähren lässt, kommt es häufig zu der kuriosen Situation, dass drinnen auf künstlichem Eis bei künstlich niedrigen Temperaturen gespielt wird, draussen aber die Tage länger und die Röcke kürzer werden. Beim diesjährigen Finale war dies wohl das geringere Problem, weil vier der sieben Finalspiele in Vancouver stattfanden, wo die Temperatur sommers wie winters nur selten von der 20-Grad-Marke abweicht. Diese klimatische Konstanz hat unter anderem zur Folge, dass bestimmte Bezirke Vancouver die höchste Kriminalitätsrate, die höchste Obdachlosenzahl oder auch den größten Drogenkonsum in Kanada verzeichnen. Denn während in Montreal oder auch in Toronto der Winter sein Veto gegen ein Leben auf der Strasse einlegt, lässt es sich in Vancouver im Februar wie im August munter im Freien leben (und sterben).

Letzte Woche spielten also die Vancouver Canucks, ein Parvenu unter den kanadischen Teams der National Hockey League, das siebte und entscheidende Spiel gegen die Boston Bruins vor heimischer Kulisse -- und verloren ziemlich sang- und klanglos. Die Party für die Hunderttausend auf den Strassen musste abgeblasen werden, doch setzte dafür eine Party ganz anderer Art ein. Im Unterschied zu europäischen Fussball-Hooligans, die sich vornehmlich untereinander prügeln, richteten sich Enttäuschung und Zorn der jungen Männer aus dem kanadischen Westen - wohl auch in Ermangelung direkt greifbarer Bostonians, da diese ein paar tausend Kilometer östlich feierten - gegen das Stadtmobiliar. Wie schon vor knapp zwanzig Jahren (als die Canucks schon einmal ein game seven verloren hatten), zogen die jungen Männer marodierend durch die Stadt, plünderten Geschäfte, verbrannten Autos und lieferten sich Gefechte mit der Polizei. Über einhundert Personen wurden festgenommen, Pfefferspray und Reizgas kamen flächendeckend zum Einsatz.

Das kann selbst im so friedlichen Kanada passieren, und zwar nach gewonnenen wie verlorenen Spielen. Bemerkenswert sind aber zwei Phänomene: 1) Die rioters kamen vorwiegend nicht aus jenen Milieus, die insbesondere Vancouvers Downtown Eastside so berüchtigt machen, sondern waren mehrheitlich Söhne der wohlhabenden Mittelschicht aus den westlichen Stadtteilen. Irgendwann muss man halt der Langeweile entschieden begegnen. 2) Social media, in den Augen mancher segensreiches Instrument der Fundamentaldemokratisierung, wurden während der Randale gleichsam als Trophäenschrank, im Nachgang als Plattform für virtuelle Steckbriefe genutzt. Manch Randalierer, der sich dem Auge des Gesetzes nachts noch zu entziehen wusste, fand am Folgetag sein Gesicht über Facebook, twitter & Co. in die Welt hinausgetragen, so dass es zu zahlreichen nachträglichen Anzeigen durch Schulen, Freunden oder gar Eltern kam.

Die neighbourhood watch community des 21. Jahrhunderts ist geboren.

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