Dienstag, 21. Juni 2011
Summertime... in der Stadt und anderswo
Wir bleiben im Westen, teilweise zumindest, also zum Ende des Beitrags hin wieder, obwohl ich mit dem meisten Menschengemachten dort nicht viel anfangen kann. Und wir bleiben beim beginnenden Sommer, denn mit ihm setzen auch die langen Schulferien ein -- bis zu zehn Wochen, die wir mittels der liberalen home schooling-Regelungen immer sehr gerne verlängert haben.

Der kanadische Sommer jenseits der Küsten und unterhalb der nördlichen Breiten hat es in sich. Da im Norden wie im Süden die natürlichen Barrieren fehlen, kann es im Sommer so heiß wie im Winter kalt werden. Im Bereich der Großen Seen wird das alles noch einmal aufgemischt. Dort kommt zur Hitze noch eine
wenig erfreuende Schwüle hinzu. Wenngleich die Rekorde eher in den Prairies, dem flachen Land zwischen den Großen Seen und den Rocky Mountains, aufgestellt werden, waren auch unsere Sommer in Toronto und Montrèal aufgrund der metropolitanen Situation mitunter unerträglich.

Was kann man dagegen tun, wenn einem die public pool genannten Pissrinnen und Chlorbäder doch zu unangenehm sind und sich in den großen Gewässern direkt vor der Haustüre zu viele von der Natur nicht vorgesehene organische und anorganische Verbindungen ansammeln? Richtig, man fährt hinaus aus der Stadt. Die mal billigen mal weniger billigen Strandurlaube in Florida, in Mexiko, in der Karibik etc. sind eher etwas für die Winterzeit, im Sommer bleiben die Kanadier mehrheitlich lieber zu Hause, besser: im Vorgarten des eigenen Hauses.

Dieser Vorgarten ist geographisch eindeutig verortbar: Der Norden beginnt als Near North fast unmittelbar hinter den Stadtgrenzen, dort wo die Metropole ausfranst, sich langsam auflöst, zunehmend und dann ganz plötzlich von ländlichen Strukturen abgelöst wird, die es in dieser Reinform in Europa schon lange nicht mehr gibt.

Sommers wohnt man im Cottage. Wer kann, die gesamten Sommermonate über, wer weniger kann, wenigsten ein paar Wochenenden lang. Hat man einmal die obligatorischen Verkehrsstaus Richtung Norden gut überstanden - im Normalfall lassen sich diese leicht umgehen, indem man nicht freitags ab 14.00 Uhr losfährt -, findet man sich in einer Welt der Bären und Schafe, der endlosen Wälder und der schleichend in Feldwege sich verwandelnden und plötzlich im Nichts endenden Strassen.

Ist das so? Wenn man weit genug fährt, dann schon. Wir taten dies einmal im nördlichen Quebec - wenn man auf die Karte schaut, wird man entdecken, dass es natürlich auch noch viel nördlicher geht - in der Gegend von Chicoutimi, wo tatsächlich im Wald die Strassen abrupt aufhörten Strassen zu sein und die Bären allmählich das Regiment übernehmen. Doch im Normalfall ist das nicht so, denn wer will schon 8 Stunden oder mehr zu seinem Wochenendhäuschen fahren? Zwei bis vier Autostunden nördlich von Toronto hat sich so eine temporäre Urlaubs- und Wohnlandschaft ausgebildet: Cottage Country. Und es wäre ach so schön und idyllisch, würden nicht Hunderttausende ebenso denken. Das Überraschende ist, dass diese mehrheitlich Besitzer eines Cottage sind und damit Haus- und Wohnformen etabliert haben, die nahezu exakte Reproduktion des Städtischen sind, Fernseher mit 30plus Kanälen inklusive. Gut, die Abstände zwischen den Häusern mögen etwas größer sein, auch liegen sie zumeist direkt an einem der unzähligen Seen und erspäht man sie, von der eigenen Wohnburg über den See schauend, nur in unscharfen Konturen. Aber sie sind da und ihre Bewohner auch. Die trifft man dann auf dem See, wenn sie mit speed boat oder jet ski nicht einmal, nein, den ganzen Tag lang an einem vorüber rauschen; oder im einzigen beer / liquor store im Umkreis von 30 Kilometern, wo man bei staatlich lizensierten Gangstern Fusel zu eigentlich prohibitiven (wenn denn nicht gerade Cottage-Zeit wäre) Preisen kaufen muss. Es gäbe noch viel zu stänkern gegen das Cottage: eine ökologische Katastrophe, ein Ausdruck extremer sozialer Ungleichheit, eine kulturelle Regression, aber dann blickt man in einen einzigartigen Sonnenuntergang über den Wäldern, schaut ein Sternschnuppenfeuerwerk oder gar - wenn der Norden schon nicht mehr so nah ist - ein Polarlicht und man gesteht sich ein. Und schön ist es doch!

Es geht auch anders, beispielsweise auf unserer kleinen Farm, eine ehemalige Hippiekommune, deren heutige Besitzerin die Siebzig deutlich überschritten hat. Ihr zweiter Mann war vor geraumer Zeit mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Deutschen durchgebrannt, weshalb sie uns sofort ins Herz geschlossen hatte. Ein dreifaches Hurra auf diese Kultur der Offenheit! Und noch sechsmal mehr auf die Farm, die ich hier verewigen möchte, auch wenn ihr jeder Komfort eines Cottage fehlte (allerlei freundliches und unfreundliches Getier vom Moskito zum Schwarzbären, Plumpsklo, Brunnenwasser, kein Strom -- dafür aber einen der schönsten Holzöfen, die ich gesehen habe und bedienen musste).

Genötigt hatte ich mich selbst, noch einmal in den Westen abzuschweifen. So sei es! Dort habe ich einmal während eines längeren Arbeitsaufenthalts ein langes Wochenende in einem Cottage in den Coastal Mountains verbracht. Das hierzulande deutlich überschätzte Whistler rechts liegen gelassen, ging es mit dem Bus weiter nach Pemberton, wo ich abgeholt und tief in den Wald chauffiert wurde. Eine kleine Märchenwelt für sich: Kolibris im Regenwald, Bären en masse, wild hinabstürzende Bäche und ein wirklich sehr guter kanadischer Cabernet Franc aus dem Okanagan Valley. Die Kehrseite erfuhr ich - und in dieser drastischen Form das erste Mal - bei einer Radtour, die uns auch durch ein nahegelegenes Indianerreservat führte. Ich will es nicht weiter beschreiben. Das soziale Elend, die Kultur der Hoffnungslosigkeit und die Erstarrung der unverschuldet Benachteiligten standen in größtmöglichem Kontrast zur umgebenden Naturschönheit und den schicken Behausungen oben am Berg. Ein konkreter Eindruck ist geblieben: die wilden Müllhalden und die Vorstellung, dass nahezu jede Familie im Schrotthandel aktiv gewesen sein musste.

Das Cottage ist Vieles: kollektiver Rückzugsraum, Freizeitspassterrorismus, Verschwendung, gezähmte Wildnis, konsumiertes Land, Ursprünglichkeit usw. Es ist ein guter Teil und Spiegel des modernen Kanada in seinen mittelschichtigen und höheren Sphären.

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Virtuelle Nachbarschaftsbeobachtung
Wer K sagt muss auch H sagen. Mit Hockey kann man in Kanada nahezu alles erklären. Und damit sei es auch jedem Interessierten ein erstes und letztes Mal gesagt: Es heisst hockey, nicht Eishockey, da dem Mainstream-Kanadier der Gedanke, man könne diesen Sport auf einem anderen Untergrund als Eis spielen schlichtweg undenkbar ist. Auch ich versuche Hockey als integralen Bestandteil kanadischer Identität zu beschreiben, doch darf ich das hier nicht weiter ausführen, sonst wird der Verleger sauer.

Deshalb zu etwas Anderem: Wenn der Winter langsam in den Sommer umschlägt, das heisst um Ostern herum der Schnee zu schmelzen beginnt und die Natur zu explodieren scheint, dann ist im Hockey Playoff-Zeit, die Wochen der Entscheidungsspiele um den Stanley Cup. Da der Frühling in weiten Teilen des Landes nicht lange währt, sondern den Sommer rasch gewähren lässt, kommt es häufig zu der kuriosen Situation, dass drinnen auf künstlichem Eis bei künstlich niedrigen Temperaturen gespielt wird, draussen aber die Tage länger und die Röcke kürzer werden. Beim diesjährigen Finale war dies wohl das geringere Problem, weil vier der sieben Finalspiele in Vancouver stattfanden, wo die Temperatur sommers wie winters nur selten von der 20-Grad-Marke abweicht. Diese klimatische Konstanz hat unter anderem zur Folge, dass bestimmte Bezirke Vancouver die höchste Kriminalitätsrate, die höchste Obdachlosenzahl oder auch den größten Drogenkonsum in Kanada verzeichnen. Denn während in Montreal oder auch in Toronto der Winter sein Veto gegen ein Leben auf der Strasse einlegt, lässt es sich in Vancouver im Februar wie im August munter im Freien leben (und sterben).

Letzte Woche spielten also die Vancouver Canucks, ein Parvenu unter den kanadischen Teams der National Hockey League, das siebte und entscheidende Spiel gegen die Boston Bruins vor heimischer Kulisse -- und verloren ziemlich sang- und klanglos. Die Party für die Hunderttausend auf den Strassen musste abgeblasen werden, doch setzte dafür eine Party ganz anderer Art ein. Im Unterschied zu europäischen Fussball-Hooligans, die sich vornehmlich untereinander prügeln, richteten sich Enttäuschung und Zorn der jungen Männer aus dem kanadischen Westen - wohl auch in Ermangelung direkt greifbarer Bostonians, da diese ein paar tausend Kilometer östlich feierten - gegen das Stadtmobiliar. Wie schon vor knapp zwanzig Jahren (als die Canucks schon einmal ein game seven verloren hatten), zogen die jungen Männer marodierend durch die Stadt, plünderten Geschäfte, verbrannten Autos und lieferten sich Gefechte mit der Polizei. Über einhundert Personen wurden festgenommen, Pfefferspray und Reizgas kamen flächendeckend zum Einsatz.

Das kann selbst im so friedlichen Kanada passieren, und zwar nach gewonnenen wie verlorenen Spielen. Bemerkenswert sind aber zwei Phänomene: 1) Die rioters kamen vorwiegend nicht aus jenen Milieus, die insbesondere Vancouvers Downtown Eastside so berüchtigt machen, sondern waren mehrheitlich Söhne der wohlhabenden Mittelschicht aus den westlichen Stadtteilen. Irgendwann muss man halt der Langeweile entschieden begegnen. 2) Social media, in den Augen mancher segensreiches Instrument der Fundamentaldemokratisierung, wurden während der Randale gleichsam als Trophäenschrank, im Nachgang als Plattform für virtuelle Steckbriefe genutzt. Manch Randalierer, der sich dem Auge des Gesetzes nachts noch zu entziehen wusste, fand am Folgetag sein Gesicht über Facebook, twitter & Co. in die Welt hinausgetragen, so dass es zu zahlreichen nachträglichen Anzeigen durch Schulen, Freunden oder gar Eltern kam.

Die neighbourhood watch community des 21. Jahrhunderts ist geboren.

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Gefangen in der velluvialen Matrix
Oder: Auch andernorts schützt Prominenz vor Plagiarismus nicht.

Letzte Woche berichteten sämtliche kanadische Medien über einen wunderlichen Fall von "weichem Plagiarismus" an der renommierten Medical School der University of Alberta in Edmonton. In seiner Rede anlässlich der in Nordamerika am Ende des Studiums üblichen convocation, der Abschlußfeier für Graduierte, wies der Dekan der Fakultät ganz erhaben auf die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens in der Wissensgesellschaft hin. Dabei verwendete er das fiktive Beispiel der velluvial matrix als einen möglichen Fachbegriff, mit dem man sich als Mediziner zukünftig auseinandersetzen müsse, wenn er eines Tages Einzug ins fachwissenschaftliche Vokabular fände. Anders ausgedrückt: Die angehenden Mediziner sollten zeitlebens der Möglichkeit unerwarteten wissenschaftlichen Fortschritts gewahr bleiben.

So weit, so gut. Das Problem an der bis zu dieser Stelle wohlwollend aufgenommenen Rede war, dass sie in weiten Teilen von einem brillanten Vortrag eines amerikanischen Mediziners abgekupfert war. Atul Gawande hatte die velluvial matrix schon ein Jahr zuvor in Stanford und dann schriftlich im New Yorker in die Diskussion eingeführt und wenigstens die Hälfte der Rede des Dekans soll nahezu wortwörtlich der Vorlage gefolgt sein, ohne darauf zu verweisen.

Einige Smartphone-bewehrte und den New Yorker lesenden Studierende stolperten schon während der Rede - die Kerle hatten also ihre Smartphones dabei... so viel zur Erhabenheit der Veranstaltung - über den kuriosen Begriff, blätterten sogleich nach und enthüllten unmittelbar nach den Feierlichkeiten das Plagiat. Was folgte, ist rasch erzählt: Die Studierenden beschwerten sich schriftlich, die Kollegen rückten in zum Teil drastischen Worten vom Dekan ab und keine Woche später war dieser, nach etlichen demutsvollen Entschuldigungen, abgetreten.

Dazu muss man wissen, dass 1) die Position eines Dekans in Nordamerika etwas prestigeträchtiger und auch sehr viel besser dotiert ist als hierzulande, wo die Fakultäten die Position im Rotationsverfahren besetzen und jeder eigentlich nur versucht, sich so lange wie möglich vor dem lästigen Amt zu drücken, 2) Plagiarismus an nordamerikanischen Universitäten einerseits ein tatsächlich grosses Problem darstellt, andererseits bei Aufdeckung drakonisch bestraft wird. Ich selbst hatte einmal die Freude einer Kommission anzugehören, die einen offensichtlichen Fall von Plagiarismus untersuchte. Der Student kam zwar mit einem blauen Auge davon (Aberkennung des Kurses, was ja bekanntermassen auch ans Geld geht), doch war er für den Rest seines Studiums, wenn er es denn beendet hat, gebrandmarkt und aktenkundig. 3) Plagiarismus je härter geahndet wird desto erfahrener die Person ist, der ein Plagiat unterstellt wird. Dies bedeutet, dass ein Erstsemester zwar gründlich den Kopf gewaschen bekommt, aber im Normalfall die Möglichkeit zur Nachbesserung erhält, während die Veteranen, insbesondere natürlich professorale Wissenschaftler, mit sofortiger sozialer Ächtung und beruflicher Degradierung zu rechnen haben. Dies mit schönen Grüßen an unsere promovierten Parlamentarier.

Ich bewundere die Konsequenz, Schnelligkeit und Härte des Urteils gegen den Dekan, gerade weil es sich um einen Dekan handelte. Doch fürchte ich auch die Konsequenz, Schnelligkeit und Härte des Urteils gegen den Dekan, denn es war medial bereits gesprochen bevor die Beweise auf dem Tisch lagen.

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